Presse: Zeitzeugin „Damals war ich Rita“

Einbecker Morgenpost vom 25.1.2024
Rozette Kats berichtet an der Rainald-von-Dassel-Schule aus ihrem Leben

Familienbilder, ein damaliger Ausweis, ein Judenstern – Rosette Kats ermunterte die Schüler, sich die Zeitdokumente anzusehen.

DASSEL. Über eine persönliche Geschichte ergibt sich ein einprägsames Bild der deutschen Geschichte: Die Niederländerin Rozette Kats hat den Nationalsozialismus überlebt, und als Zeitzeugin wird sie nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen. In der erinnernden Auseinandersetzung mit dem Leiden wurde für die Schüler der Rainald-von-Dassel-Schule deutlich, dass sie dafür sorgen müssen, dass sich so etwas nie wiederholt. Den Neunt- und Zehntklässlern gab Kats einen Rat: Sie sollen nachdenken und nicht ja sagen, wenn sie eigentlich nein sagen wollen. 

Schulleiterin Kerstin Voß freute sich, dass Rozette Kats zum wiederholten Mal an der Schule war. Die Würde des Menschen ist unantastbar, und jeder Mensch hat das Recht auf Leben, das ist im Grundgesetz festgeschrieben. Man könne froh sein, in einem Land zu leben, in dem das Leben so wertgeschätzt werde, sagte Voß. Unter der NSDAP sei menschliches Leben nicht geachtet worden, hier seien Menschen ausgegrenzt und getötet worden. Unter dieser Schreckensherrschaft litten und leiden Menschen noch heute. Voß dankte Kats für den Einblick in ihr Leben und hoffte, dass ihre Geschichte zum Nachdenken anregt und für ein Bewusstsein sorgt, dass eine Gewaltherrschaft heute keine Chance mehr hat.

Geboren wurde Kats im Mai 1942 in Amsterdam, ihre Eltern waren jüdischen Glaubens. Die ersten Lebensjahre lebte Rozette in dem Glauben, Rita zu heißen. Einen Tag vor ihrem sechsten Geburtstag sagte ihr Vater ihr, dass ihr eigentlicher Name Rozette sei und er und seine Frau nicht ihre Eltern seien. Ihre leiblichen Eltern hatten sie in Sicherheit gebracht vor den Nazis und eine Pflegefamilie gefunden. Dann wurde nicht mehr darüber gesprochen. Die Sechsjährige verstand das nicht, wurde ein ängstliches, angepasstes Kind, das immer lieb war. Erst später, nach einer Therapie, verstand sie, wie ihr Lebensweg ihre Persönlichkeit fast ihr gesamtes Leben lang beeinträchtigt hat.

Kats erzählte eindrücklich von der Zeit, als die Nazis das Sagen in den Niederlanden hatten: Sie berichtete von »fürchterlichen Maßnahmen«, die sich die Nationalsozialisten ausdachten, beispielsweise vom Judenstern, von Einschränkungen beim Einkaufen, vom Verbot öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder von Enteignungen. Und Verstöße gegen Verbote waren von Strafen begleitet.

Ihre Familie lebte nicht streng gläubig, »dann hätte man 613 Regeln« des jüdischen Glaubens befolgen müssen, sagte sie. Die Lebensumstände von Juden wurden auch in den Niederlanden immer schwieriger, und ihre Eltern entschieden sich unterzutauchen. Das war allerdings mit einem Säugling schwierig. Denn Babys schreien und benötigen Windeln, die auch wieder gesäubert werden müssen. Menschen, die ihnen trotz alledem einen Unterkunft gaben, bezeichnete Kats als »sehr mutig«. 

Nie konnte die kleine Familie lange an einem Ort sein. So entschlossen sich die Eltern, ihr Kind zu Pflegeeltern zu geben. Kurz darauf wurden sie verraten. Im Lager Westerbork wurde ihr Bruder Robert geboren. Wenige Monate später wurden alle drei in Auschwitz ermordet. Der Rest ihrer Familie starb im Vernichtungslager Sobibor. Dort aber hat sie ihnen einen Gedenkstein setzen lassen – das sei ein schöneres Erinnerungsbild als ein Schornstein.

Ihr Onkel, der einzige weitere Überlebende der Familie, vermochte Zeit seines Lebens nicht über die ermordeten Verwandten zu sprechen. »Er war traumatisiert«, meint Kats rückblickend. Erst Mitte der 1980-er Jahre bekam sie von ihrem Onkel, der schwer erkrankt war, das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Und durch einen glücklichen Zufall hatte ihr Cousin eine Tasche gerettet, in der sich weitere Dokumente der Familiengeschichte befanden.

Die Durchsicht sei sehr emotional gewesen, berichtet sei. So freue sie sich beispielsweise, dass sie die DNA ihrer Mutter habe, auf einer angeleckten Briefmarke. Sie fasste den Mut, der Geschichte ihrer Eltern und damit auch ihrer eigenen nachzuspüren. Sie hat die Vernichtungslager besucht, versucht das frühere Wohnhaus auszumachen, hat ihre Geschichte aufgearbeitet. Nun habe sie verstanden, wie ihre Geschichte ihre Persönlichkeit geprägt habe und sie so »blöd« gelebt habe. Sie habe ihre Pubertät verpasst, sei angepasst gewesen wie ein »Chamäleon«. »Damals war ich Rita.« Heute mache sie nur noch, was sie wolle. Und sie riet den Schülern, immer gut nachzudenken, bevor man handele oder spreche.

Organisiert hat den Besuch von Rozette Kats der Kulturverein »Kultur im Esel« aus Sülbeck. Die reale Begegnung mit Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus soll den Schülern einen Einblick in die alltäglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik eröffnen, sie zur Empathie befähigen und für Menschenrechte und Toleranz sensibilisieren.s